"Womit hab ich das verdient?" - Weihnachten 2005

Was die meisten Menschen nicht sehen.

Mpume war 16 Jahre alt und ein sehr hübsches Mädchen; sie lebte zusammen mit ihrer Mutter, ihren drei Geschwistern und drei Cousins - den Kindern ihrer verstorbenen Tante - in der weiten hügeligen Landschaft von kwaZulu/Natal. Ihr Vater arbeitete in Durban und ihre Mutter arbeitete als Magd in einem Dorf, das 15 km von ihrem Kraal entfernt ist. Ihr Vater kam nur selten nach Hause und schickte unregelmäßig Geld, weshalb sie nur wenig zum Leben zur Verfügung hatten. Da sie aber in einer ländlichen Gegend lebten, konnten sie ihr eigenes Gemüse und Mais anpflanzen und hatten ein paar Hühner und eine Ziege. Das Leben war gut und die Familie war glücklich. Jeder verrichtete seine täglichen Pflichten. Mpumes Mutter Lindeni steht jeden Tag um 4 Uhr 30 in der Frühe auf, kocht für ihre Kinder Haferbrei, damit sie nicht hungrig zur Schule gehen müssen, wäscht das Geschirr, fegt den Boden und legt die Schuluniform für die Kinder zurecht. Schuhe hatten sie keine, denn dafür hatten sie kein Geld. Essen war wichtiger und notwendiger zum Überleben. Lindeni seufzte leise, als sie auf ihre sieben Kinder schaute, die auf Grasmatten schliefen. Sie schauten so friedlich aus wie kleine Engel.

Lindeni weckte Mpume, ihr ältestes Kind, auf: „Komm und hilf mir,“ sagte sie. „Wir müssen Wasser zum Trinken, Kochen und Waschen holen, bevor ich zur Arbeit gehe.“ Mpume stand auf und zog ihr Baumwollkleid und einen leichten Pullover an, die einzige Kleidung, die sie besaß. Es war kalt so früh am Morgen. Mpume und ihre Mutter machten sich auf den Weg zum Fluss. Sie mussten bergab gehen, was an diesem Tag nicht einfach war wegen des Morgentau. Der Weg war so rutschig. Schließlich erreichten sie den Fluss. Lindeni war spät dran und sie bat Mpume, das Wasser zur Hütte zu tragen, während sie selbst zwei Kilometer weiter ging, um mit dem Bus zur Arbeit zu fahren.

Mpume war allein. Die Sonne ging gerade auf. Ah, der herrliche afrikanische Sonnenaufgang! Sie hatte keine Angst. Sie hatte das schon öfters getan. Sie tauchte gerade den letzten 25 Liter Kanister in den Fluss, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Bevor sie sich umdrehen konnte lag Mpume schon am Boden und schrie um Hilfe. Eine Hand hielt ihr den Mund zu und eine Stimme war so nah an ihrem Ohr, dass sie den Atem des betrunkenen Mannes riechen konnte. „Sei leise oder ich schneid dir den Hals auf.“ Mpume war wie versteinert. Der Mann zerrte an ihrem dünnen Baumwollkleid und hielt das Messer an ihren Hals, während er sie brutal vergewaltigte. Alles war so schnell vorbei, für Mpume allerdings stand die Zeit still. Schockiert, blutend und verängstigt lag sie eine endlose Zeit am Flussufer. Sie fühlte sich schmutzig und schuldig. „Warum ich? Womit hab ich das verdient?“

Dieser Tag veränderte Mpumes Leben und das ihrer ganzen Familie. Ihr Vater hatte sie zum letzten Mal vor sechs Monaten zuhause besucht. Ihre Mutter war zum vierten Mal schwanger und auf dem Weg von der Arbeit nach Hause kam sie bei der "Clinic", einer Basis-Gesundheitsstation, vorbei und ließ sich untersuchen, weil sie ständig kränklich war. Ihre vorherigen Schwangerschaften waren nicht so verlaufen. Was stimmte nicht mit ihr? Während sie in der Clinic war, machte die Krankenschwester einen HIV-Test. Die Krankenschwester teilte Lindeni mitfühlend mit, dass sie HIV-positiv ist und sie sich deswegen auch immer so krank gefühlt hatte. Keiner merkte, welch unendliche Angst sie in ihrem Herzen spürte. Mit hängendem Kopf machte sie sich langsam auf den Weg nach Hause. Versunken in ihre eigenen Sorgen und Ängsten fiel ihr weder auf, dass Mpume sehr leise war noch dass sie blaue Flecken im Gesicht, am Hals und an ihren Armen hatte und ihr kleines Baumwollkleid ganz zerrissen war. Die ganze Nacht war sie so rastlos und in Sorge, dass sie kein Auge zudrückte.

Während sie in der Nacht in ihrem Bett lag dachte sie über die Zukunft ihrer Kinder nach und fragte sich, was wohl aus ihnen werden würde. Sie versuchte auch über die Wut über ihren Mann hinwegzukommen. Da hörte sie ein leises Schluchzen von Mpume. “Was ist, mein Kind?“ fragte sie. Mpume brach in Tränen aus und erzählte ihrer Mutter schluchzend, was am Morgen unten am Fluss passiert war. Lindeni wusste nicht, was sie machen sollte. Und so hielt sie Mpume in ihrem Arm und sie weinten gemeinsam darüber, was Mpume zugestoßen war, aber auch über den Aberglauben, dass ein Mann von AIDS geheilt werde, wenn er mit einer Jungfrau schlafen würde. Sie weinten solange, bis sie keine Tränen mehr hatten.

Am nächsten Morgen baten sie Mpumes 12-jährige Schwester auf ihre Geschwister aufzupassen, in der Hütte zu bleiben und ja niemanden hereinzulassen. Sie gingen beide Hand in Hand zur nächsten Polizeistation, die viele Kilometer entfernt war. Dort wurde ihnen die Verfahrensweise bei einem Fall einer Vergewaltigung erklärt. Was Mpume und ihre Mutter am meisten sorgte, war die Ungewissheit, ob Mpume nun schwanger sei und ob sie sich möglicherweise mit HIV angesteckt habe. Das rechtliche Verfahren war wie ein verschwommener Alptraum; Mpume stand ja immer noch unter Schock.

Sechs Wochen später hatten sich Mpumes schlimmste Ängste bestätigt. Sie war schwanger und war mit HIV infiziert. Die Wut, die in ihrem Herzen aufkam, war fast unerträglich. Eines Morgens saß sie gedankenverloren am Fluss und blickte der Strömung nach. Der Fluss sah so einladend aus. Wenn sie tief genug in den Fluss gehen würde, würde das Wasser sie mit all ihren Sorgen für immer wegspülen und alles wäre vorbei. Sie stand auf und setzte langsam einen Fuß vor den anderen.

„Mpume komm und hilf mir tragen“, die Bitte ihrer Mutter kam gerade noch zur rechten Zeit. Mpume kehrte um, Tränen kullerten ihr über das Gesicht. Da erkannte ihre Mutter, was ihre Tochter geplant hatte. „Sie braucht Hilfe“, dachte sie, "aber wohin sollen wir gehen?" Die Polizei würde ihnen nicht helfen, die Krankenschwestern von der Clinic haben zu viel zu tun und die Sozialarbeiter sind 80 km weit weg. Lindeni versuchte ihren Mann anzurufen, um ihm die schlechten Nachrichten zu erzählen. Aber sein Arbeitgeber erzählte ihr, dass ihr Mann vor drei Monaten wegen Tuberkulose in ein Krankenhaus nach Durban eingeliefert worden war. Lindeni war völlig niedergeschlagen: "Was soll ich nur tun? Wer kann mir überhaupt helfen? Wohin soll ich gehen? Ich habe kein Geld. Die Kinder haben Hunger!" Mpume und Lindeni sind beide schwanger und HIV-positiv. Was für eine aussichtslose Lage!

An einem Sonntagnachmittag wusch Lindeni ihre Wäsche am Fluss. Alle Frauen von den Hügeln ringsumher waren da und es wurde sehr viel geredet. Am meisten über kranke Kinder, Ehemänner, die nicht nach Hause kommen, Freunde, die eine andere Frau in der Stadt haben und über AIDS. Eine der Frauen war sehr mutig und obwohl sie wusste, dass sie ihr Leben und ihre Stellung in der Gesellschaft riskierte, gab sie zu, dass sie HIV-positiv ist. Sie hatte von einer Einrichtung in Mandeni gehört, wo man Hilfe bekommen würde. Lindeni hörte aufmerksam zu. Sie wusste: "Ich darf nicht sterben! Ich muss für meine Kinder da sein!" Sie machte sich Sorgen um ihren Ehemann, auch wenn er es war, der sie angesteckt hatte. Allerdings hatte sie weder die Zeit noch die Kraft, ihn zu besuchen. Sie stellte diesen Gedanken zurück, denn ihre erste Sorge galt der Gesundheit ihrer Tochter und der des ungeborenen Babys, ihrem eigenen Baby und den anderen fünf Kindern. „Diese Einrichtung“ sagte die Frau “ist in Mandeni und heißt Blessed Gérard's Care Centre. Dort bekommst du Hilfe, wenn du AIDS oder auch etwas anderes hast.“ Lindeni wollte sich das selber anschauen, aber sie hatte Angst. Sie gab ihre letzten Cents aus, um nach Mandeni zu kommen.

Als Lindeni das Care Centre betrat, schaute sie durch eine Glastüre. Sie war schockiert über das, was sich im Glas spiegelte. Sie sah eine ausgemergelte Frau, deren Kleidung herunterhing, obwohl sie hochschwanger war, die schwarze Flecken im Gesicht hatte und einen Hautausschlag. Sie sah jemanden, nur noch Haut und Knochen, am Ende mit der Kraft. Sie sah sich selbst.

Aber sie war überrascht. Das Gebäude war schön, hell und sauber. Die Menschen lachten. Sie sah ein paar weiße Menschen, viele Afrikaner und sie alle waren fröhlich. 

Eine nette Frau brachte Lindeni in ein kleines Zimmer, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Lindeni traute ihren Augen und Ohren nicht: Niemals zuvor wurde sie so höflich und zuvorkommend behandelt. Jeder war so nett. Die Frau, mit der sie sprach, hatte eine sanfte, verständnisvolle Stimme und sie war nicht in Eile. Die Krankenschwester ließ sich Zeit. Lindeni fühlte sich sicher und so erzählte sie der Krankenschwester alles was passiert war. Die Krankenschwester vom Blessed Gérard's Care Centre versicherte ihr, dass sie jegliche Hilfe bekommen würde. Zuerst erklärte sie ihr alles über die Therapie mit antiretroviralen Medikamenten, die Mpume und ihr helfen könnte, wieder gesünder zu werden und noch lang zu leben. Es war keine Frage, dass sie die so freundliche Hilfe annehmen würden und Lindeni fragte, wie viel sie dafür zahlen müsste. Sie war baff erstaunt als sie hörte, dass sie keine Rechnung bekommen wird, weil es gute Menschen gibt, die die Arbeit des Blessed Gérard's Care Centres finanziell unterstützen, so dass mittellosen Patienten wie ihr kostenlos geholfen werden kann.

Die Krankenschwester holte dann eine andere nette Frau und die erklärte Lindeni, dass sie von der Regierung eine Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen könnte und sie gab ihr alle Informationen, die sie für einen Antrag brauchte. Anschließend fragte sie Lindeni, wie viele Kinder sie habe und wie alt sie seien. Sie wies darauf hin, dass sie auch um Kindergeld anfragen soll. Es würde ca. drei Monate dauern, bis sie vom Staat den Zuschuss bekäme und fragte deshalb Lindeni, ob sie denn auch Lebensmittel zuhause hätte. Lindeni war verlegen, sagte ihr aber die Wahrheit und verneinte. Sie selbst war zum Arbeiten zu krank und ihr Mann war auch im Krankenhaus. Es gab nichts zu essen. „Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden Ihnen helfen. Wir geben Ihnen Essenspakete mit, damit Sie versorgt sind bis sie ihre Unterstützung bekommen“ sagte die nette Frau. Die Krankenschwester bat Lindeni, auch Mpume ins Care Centre zu bringen, denn dann könnten beide mit dem Doktor sprechen.

Lindeni und Mpume kamen ins Blessed Gérard's Care Centre und seither werden beide vom medizinischen Personal des HAART Programms versorgt. Lindeni brachte ihr Baby auf die Welt, ein wunderbares kleines Mädchen und wir hoffen und beten, dass es sich nicht bei der Geburt von ihrer Mutter mit HIV angesteckt hat. Mpume hatte einige intensive Beratungsgespräche und jetzt freut sie sich auf ihr Baby, aber sie ist auch fest entschlossen nach der Geburt wieder die Schule zu besuchen. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, starb kurz darauf an Tuberkulose und an Gehirnhautentzündung, beides Krankheiten, die in Zusammenhang mit AIDS oft auftreten. Lindeni und Mpume ist in jeder Hinsicht geholfen und sie sind auf dem Weg der Besserung.

Ein herzliches und aufrichtiges Dankeschön an alle Spender, die es möglich machen, dass wir Lindeni, Mpume und Hunderten anderer so wirksam helfen können!


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